Erfahrungsbericht eines Lerncoaches:
„Attaaaaackeeeee! Piuuuuuh…Bumm-Bumm…Peng…Aaaaaaah!“ Innert kürzester Zeit hat sich das Wartezimmer in eine hart umkämpfte LEGO-Festung verwandelt. Es dauert nicht lange, bis ich einen etwa 8-jährigen Jungen inmitten des Getümmels erspähe – völlig versunken in den erbitterten Kampf zwischen den LEGO-Soldaten, die er anführt. Seine Mutter wirft ihm von Zeit zu Zeit einen mahnenden Blick zu: „Geht das auch etwas leiser?“, soll er wohl bedeuten.
Kurze Zeit später verlässt Marlon* schweren Herzens seine Stellung und folgt seiner Mutter in den Coaching-Raum. Während der Junge die Umgebung erkundet, beschreibt Frau L., wie es zum Entschluss kam, sich Unterstützung bei einem Lerncoach zu holen.
Ich höre, dass Marlon eigentlich ein toller Junge ist. Ein lieber Bub mit einem super Humor. Da horcht sogar der 8-Jährige kurz auf. Eigentlich ein guter Schüler, clever, begabt in Mathe, Mensch und Umwelt, im Sport. Aber mit dem Lesen will es einfach nicht so richtig klappen – trotz Logopädie und integrativer Förderung in der Schule. Das alles nütze nicht viel, weil Marlon sich partout dagegen sperre, die Übungen zu Hause zu erledigen, wie Frau L. erklärt. Die Mutter drängt, Marlon verweigert. Es ist ein ewiger Kampf – fast so wie vorhin im Wartezimmer. Frau L. ist mit ihrem Latein am Ende, sie macht sich Sorgen. „Ich weiß einfach nicht, was ich noch machen soll. Er muss doch lesen lernen! Wenn in der dritten Klasse der Stoff anzieht, wird er das nicht mehr kompensieren können – dann hat er keine Chance mehr….“
Was wollt ihr zusammen erreichen?
Marlon gibt sich unbeteiligt. Er "findet Lesen doof" und außerdem "nervt Mamas ständiges Gemecker". Er möchte am Nachmittag lieber spielen, schließlich dauert die Schule lange genug. Da muss man doch nicht auch noch zusätzlich üben! Und die Klassenlehrerin hat auch gesagt, dass Leseübungen freiwillig sind. Jeder lernt in seinem Tempo und Marlon eben etwas langsamer. Dass seine Mutter das nicht verstehen will, versteht Marlon überhaupt nicht.
Verstohlen schielt Marlon von seiner Zeichnung auf, als ich ihm erkläre, dass viele Kinder Schwierigkeiten haben, das Lesen zu lernen. Wie viel Mut es braucht, sich mit seinen Schwächen auseinanderzusetzen. Wie frustrierend es ist, wenn die anderen einen überholen und dass das Üben keinen Spaß macht, wenn man offenbar gar nicht besser wird. Frau L. bekommt wässrige Augen und drückt kurz Marlons Arm.
Ich bitte Marlon, eine kleine Reise in die Zukunft mit mir zu unternehmen. Wir treffen uns in einem Jahr wieder, zufällig im Supermarkt. Er kommt nun bald in die vierte Klasse und gehört zu den „Großen“ im Schulhaus. Ich frage ihn, wie es ihm geht. Er fühlt sich gut und es gibt Neuigkeiten. Das Lese-Thema hat sich in Luft aufgelöst. Er kann nun flüssiger lesen. Und die Mama hat fast ganz aufgehört zu nerven (mit ein paar kleinen Ausnahmen).
Wie wäre das?
„Hm, schon ganz gut.“, brummelt Marlon. So schnell gebe ich mich nicht zufrieden: Was wäre denn schön daran, gut lesen zu können? Wir stellen fest, dass Lesen-Können ganz schön praktisch ist: Man kann die Hausaufgaben schneller erledigen. Man versteht in der Mensch und Umwelt-Prüfung mehr vom Text. Man ist stolz. Man findet sich alleine mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurecht. Die Liste wird länger und länger.
Wie würde es Spaß machen, das zu lernen?
Aus der Schublade nehme ich das Gehirn-Modell und lege es vor Marlon und Frau L. auf den Tisch. Ich erkläre den beiden, dass das Gehirn Zeit braucht, um lesen zu lernen. Dass im Gehirn neue Bahnen entstehen müssen und warum das am Anfang so anstrengend ist. Dass Üben Krafttraining für das Gehirn ist und warum es sich lohnt. Wie das Lesen irgendwann blitzschnell geht, wenn es „automatisiert“ ist. Marlon erfährt auch, dass gute Gefühle Doping für unser Gehirn sind. Dass es deshalb wichtig ist, dass ihm die Leseübungen Freude bereiten. Bei Streit und Krach schaltet der Kopf auf Durchzug und möchte am liebsten gar nichts mehr aufnehmen. Gemeinsam überlegen wir, was sich ändern soll. Der „Beschwerdebrief“ sieht in etwa so aus:
Das nervt mich:
Und auch Frau L. darf einmal Dampf ablassen: Schließlich macht sie sich Sorgen und will Marlon nur helfen. Und Marlon? Der versteht das nicht und zeigt ihr ständig die kalte Schulter. Leseübungen? Fehlanzeige! Marlon lässt seine Mutter abblitzen.
Gemeinsam vorwärts – als Team
Im Lerncoaching nähern wir uns Schritt für Schritt den Fragen:
Im Laufe des Coaching-Prozesses wird ein Erfolgstagebuch geführt. Meist schreibt Frau L., manchmal trägt auch Marlon etwas ein. Notiert wird, was sich bewährt. Die jeweiligen Erfahrungen werten wir in den Coachingstunden gemeinsam aus.
Die Buchhandlung
Der gemeinsame Besuch der Buchhandlung weckt bei Mutter und Sohn gemischte Gefühle. Wir hatten vereinbart, dass Marlon sich seiner Lesestufe entsprechend selbst ein Buch aussuchen darf. Zielstrebig greift er nach einem Starwars-Band für Erstleser: düster-gruselige Bilder und Fotografien eingeschlossen. Seiner Mutter ist der Starwars-Hype nicht ganz geheuer… aber was tut man nicht alles für das gemeinsame Ziel? Wenigstens ist die Schriftgröße und das Niveau der Texte wie besprochen.
Das Leseritual
Das neue Leseritual schafft es ebenfalls ins Erfolgstagebuch: Marlon darf entscheiden, ob er abends im Bett 10 Minuten mit seiner Mutter liest oder gleich das Licht löscht. Im ersten Fall zünden Mutter und Sohn eine „Lesekerze“ an und machen es sich unter der Decke gemütlich. Marlon und seine Mama wechseln sich mit dem Vorlesen ab, damit Marlon den Inhalt des Textes trotzdem verstehen kann. Schließlich möchte er wissen, wie es mit Meister Yoda und Obi-Wan weitergeht.
Schluss mit Nörgeln!
Auch die Korrektur-Absprachen greifen: Marlon reagierte in der Vergangenheit oft ungehalten auf Verbesserungen beim Lesen. Die Stimmung kippte. Im Coaching erarbeiten wir einen Kompromiss: Mama hält sich mit Korrekturen zurück und berührt Marlon kurz am Arm, wenn er sich verliest. Das entspannt Mutter und Sohn und ihre Beziehung zueinander.
Fortschritte würdigen
Marlon hat bereits die Überzeugung gebildet, er könne sowieso nicht lesen. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, auch kleine Fortschritte zu würdigen. Mutter und Sohn reservieren sich regelmäßig ein Zeitfenster, um miteinander darüber zu staunen, wieviele Buchseiten sie bereits gemeinsam bezwungen haben. Frau L. achtet darauf, Marlon von Zeit zu Zeit Anerkennung dafür zu schenken, dass er sich auf das gemeinsame Üben einlässt. Alle zwei Monate wird mit dem Handy eine Tonaufnahme angefertigt. Da muss Marlon immer ein wenig kichern. Bei der Auswertung schütteln Mutter und Sohn regelmäßig ungläubig den Kopf („So hörte sich das noch vor ein paar Monaten an? Bin das wirklich ich?“)
Nach 8 Sitzungen geht ein spannendes Coaching zu Ende. Mit kleinen Erfolgen, einigen Rückschlägen und einem Rucksack voller neuer Erfahrungen. Und Marlon? Der spielt immernoch lieber LEGO als zu lesen. Auch wenn seine Mutter schmunzelnd berichtet, dass das Starwars-Buch vom Nachttisch kaum mehr wegzudenken ist…
*Name geändert
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Die Weiterbildung richtet sich ausschließlich an Fachpersonen (Psycholog/innen, Heilpädagog/innen, Sozialarbeiter/innen, Lehrpersonen etc.)