Lerncoaching bei Angst vor mündlichen Prüfungen

Lorena, 26

„Guten Tag

Ich bin im Internet auf Sie gestossen und habe Ihre Artikel zu Prüfungsängsten und Vorträge halten gelesen. Mein Name ist Lorena K.*, ich bin 26 Jahre alt und mache momentan einen Master in Biologie an der Universität *. In ein paar Wochen steht die Abschlussprüfung an und ich hoffe, dass Sie mir weiterhelfen können. Es ist so, dass ich jetzt schon ziemlich nervös bin, deswegen wende ich mich an Sie. Hätten Sie baldmöglich vielleicht Kapazitäten für ein Lerncoaching mit mir? Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen.

Mit freundlichen Grüssen
Lorena"

Erstgespräch

Lorena erscheint alleine zum Erstgespräch. Sie kommt pünktlich und wirkt offen und zugewandt. Bald stellt sich heraus, dass die Klientin kurz vor dem Abschluss ihres Studiums steht, das ihr augenscheinlich sehr am Herzen liegt: sie möchte „einen guten Abschluss“, hat sich immer schon gewissenhaft auf die Prüfungen vorbereitet und wurde bisher für ihren Fleiß jeweils mit guten Noten belohnt. Bei den (ausschließlich schriftlichen) Prüfungen sei sie zwar jeweils ein bisschen angespannt und nervös gewesen, habe diese aber insgesamt „gut hinter sich gebracht“. Seit sie jedoch wisse, dass sie für ihren Master-Abschluss eine mündliche Prüfung ablegen muss, ist „die blanke Panik ausgebrochen“. Lorena möchte diese Master-Verteidigung mit mindestens der Note 5.5 (sehr gut) bestehen, um sich anschließend für eine Doktoranden-Stelle an der Universität bewerben zu können. „Das ist der Tag X, der entscheidet über meine Zukunft“ sagt sie leise, während sie auf ihrem Stuhl zusammensinkt und ihren Blick abwendet. Sie macht sich große Sorgen zu versagen und kann bei der Vorbereitung ihres Vortrages deshalb keinen klaren Gedanken fassen. Je näher die Prüfung rückt, desto angespannter ist sie. In Ansätzen kennt Lorena diese Ängste bereits aus Schulzeiten. Auch damals sei es ihr schwer gefallen, Referate zu halten und bei der mündlichen Matura-Prüfung habe sie „ziemlich geschwitzt“. Derartig ausgeprägte Ängste habe sie bisher jedoch noch nicht erlebt. Am schlimmsten seien die Abende, sagt Lorena, dann dreht sich das Gedankenkarussell, sie schläft schlecht und fühlt sich am nächsten Tag müde und ausgelaugt.

Ziele für das Lerncoaching

Auf die Frage, was sich verändern müsste, damit Lorena das Coaching als erfolgreich ansehen würde, äußert sie: „Ich muss einfach diese dumme Panik loskriegen und zwar so schnell wie möglich. Das halte ich nicht mehr aus!“

Der Leidensdruck der Klientin ist in der Sitzung deutlich spürbar. Um das Ziel der Klientin zu konkretisieren, möchten ich wissen, woran Lorena merken würde, dass „diese dumme Panik“ die Flucht ergriffen hätte. Wie würde sie sich fühlen, sich verhalten?

Entspannt würde sie sich fühlen und selbstsicher auftreten können, meint die Klientin daraufhin.

Als Lerncoach können Sie diesen Moment nutzen, um über die Funktion der Angst zu sprechen. Im Lerncoaching mit Lorena werden die folgenden Fragen diskutiert:

  • Warum ist man vor wichtigen Prüfungen nervös?
  • Ist die Angst in jedem Fall hinderlich?
  • Ist es notwendig, „völlig entspannt“ zu sein? Ist dieser Zustand realistisch?

In diesem Zusammenhang wird auch die sogenannte Yerkes-Dodson-Regel diskutiert. Diese besagt, dass die maximale Leistungsfähigkeit bei einem mittleren Grad an Anspannung gegeben ist. Um eine gelungene Prüfung zu absolvieren, ist demnach weder ein Zustand vollkommener Entspannung noch gänzlicher Panik wünschenswert.

Lorena wird im Zuge dessen bewusst, dass ein wenig Nervosität „wohl dazu gehört“ und im besten Fall sogar nützlich sein kann, um eine gute Leistung zu erzielen. Davon abgeleitet wird das folgende Coachingziel formuliert:

„Ich möchte lernen, mit meiner Angst so umzugehen, dass ich trotzdem eine gute mündliche Prüfung machen kann.“

„Ich möchte meine Vortragskompetenzen verbessern.“

Die Ziele werden sowohl von der Klientin als auch von der Beraterin schriftlich fixiert und dienen als Grundlage für die weitere Zusammenarbeit.

Vorgehen

Bei der Problemanalyse wird schnell deutlich, dass Lorena aufgrund ihrer Ängste sämtliche Leistungssituationen vermeidet, in denen mündlich geprüft wird. Gemeinsam mit der Klientin wird das folgende Schema ausgefüllt:

Angeregt durch das Gespräch stellt Lorena im Lauf der Sitzung fest, dass ihre Ängste vor Vorträgen und mündlichen Prüfungen durch Vermeidungslernen aufrecht erhalten werden: Sie blickt diesen Situationen sorgenvoll entgegen, vermeidet diese wann immer möglich und erlebt mit jeder Vermeidung einen Abfall der Angst. Sie hat mit der Zeit verinnerlicht, dass sie ihre Ängste nur dann bewältigen kann, wenn sie ihnen aus dem Weg geht. Langfristig werden ihre Sorgen und Befürchtungen dadurch jedoch immer schlimmer. Sie ist und bleibt davon überzeugt, dass „mündliche Prüfungen schrecklich sind“ und konnte bisher nicht die Erfahrung machen, dass sie dazu in der Lage ist, diese Situation zu bewältigen.  Das Resümée: Lorena kann ihre Ängste nur dann loswerden, wenn sie sich ihnen stellt.

Wir empfehlen, in diesem Zusammenhang auch das Prinzip der Habituation aufzugreifen. Lorena erfährt, dass der Körper einen Angstzustand nur für einen begrenzten Zeitraum aufrecht erhalten kann: mit der Zeit tritt eine Gewöhnung ein. Schweren Herzens willigt Lorena ein, das Coaching in den folgenden Stunden auch dafür zu nutzen, sich auf den „Ernstfall“ vorzubereiten und sich mit ihrer Angst zu konfrontieren.

Gedankliche Vorbereitung auf den Vortrag: kognitive Umstrukturierung

Die Vorstellung, vor einem 4-köpfigen Gremium aus Professoren und Lehrassistenten einen Vortrag zu halten, versetzt Lorena in Panik. Die dritte Stunde wird daher dafür genutzt, die gefürchtete Situation näher zu beleuchten, um anschließend Lösungswege abzuleiten. Gemeinsam mit der Klientin wird das folgende Schema ausgefüllt:

Im Zuge der Problemanalyse bemerkt Lorena, dass sie von einer Reihe blockierender Gedanken geplagt wird, die ihre Ängste noch verschlimmern. Ihr wird darüber hinaus bewusst, dass diese Gedanken sie daran hindern, ihr Ziel zu erreichen: Sie möchte sich beim Vortrag eigentlich selbstsicher und zuversichtlich fühlen und ihren Ängsten nicht hilflos ausgeliefert sein. Lorena erklärt sich dazu bereit, sich kritisch mit ihren blockierenden Gedanken auseinanderzusetzen. Wir entscheiden uns hierbei vorwiegend für die Methode der kognitiven Umstrukturierung. Diese basiert auf der Erkenntnis, dass unsere Gedanken unsere Gefühle und unser Verhalten wesentlich beeinflussen. Möchte Lorena ihre Ängste reduzieren, lohnt es sich demnach, bei der Interpretation der Prüfungssituation anzusetzen.

In der Sitzung werden wird zuerst der folgende Stress-Gedanken unter die Lupe genommen:

„Bitte lass mich nicht wieder so rot anlaufen! Das wird sonst ultra peinlich!“

In diesem Zusammenhang ist es nützlich, die Ursachen des Errötens zu erörtern und gemeinsam mit der Klientin einzuordnen, welche Bedeutung das Erröten hat. In der Arbeit mit Lorena werden die folgenden Fragen diskutiert:

  • Wissen Sie, warum manche Menschen erröten und andere weniger?
  • Können Sie sich daran erinnern, wann Sie das letzte Mal jemanden bei einem Vortrag gesehen haben, der rot wurde?
  • Was haben Sie über diese Person gedacht?
  • Finden Sie es peinlich, wenn eine Freundin bei einem Vortrag rot wird?
  • Ist ein Vortrag automatisch schlechter, wenn der Referent einen roten Kopf hat?

Lorena ist überrascht als sie erfährt, dass das Erröten vor allem mit der Dicke der Haut zu tun hat. Demnach werden manche Menschen aufgrund ihrer körperlichen Konstitution rascher rot als andere. Im Zuge des Gesprächs wird Lorena bewusst, dass sie mit sich selbst viel härter ins Gericht geht als mit ihren Mitmenschen: Ihr selbst fällt es selten auf, wenn andere Menschen bei einem Vortrag erröten. Darüber hinaus denkt sie auch nicht schlecht über diese. Die Klientin bemerkt, dass sie die Bedeutung des Errötens bisher überschätzt hat: „Eigentlich achte ich gar nicht auf diese Sachen, ich höre einfach dem Referenten zu und lese, was auf den Folien steht.“

In einem zweiten Schritt wird mit Lorena darüber diskutiert, welche Gedanken ihr dabei helfen würden, sich in der Vortragssituation zuversichtlicher zu fühlen. Was könnte sich die Klientin selbst sagen, um mit dem Erröten umzugehen?

Hinweis: Es geht in diesem Schritt nicht darum, die „rosarote Brille“ aufzusetzen und unrealistische Selbstinstruktionen zu erarbeiten wie „Ich werde bestimmt nicht rot.“ Oder „Das schaffe ich ganz bestimmt.“ Etc. Vielmehr soll der Klientin die Möglichkeit gegeben werden, sich konstruktiv mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen.

Lorena formuliert für sich den neuen Gedanken:

„Du wirst rot werden - dagegen kannst du nichts tun. Aber das darf passieren - und passiert anderen auch!“

Anschließend wird Lorena gebeten, sich in die Prüfungssituation hineinzuversetzen, sich vorzustellen, wie sie errötet und den neuen Gedanken zu testen. Wie fühlt er sich an? Ist er für Lorena realistisch? Hilft er Lorena, sich zuversichtlicher zu fühlen?

Die junge Studentin stellt fest, dass sich der neue Gedanke zwar noch etwas „fremd“ und „neu“ anfühlt, ihr aber zu mehr Gelassenheit verhelfen könnte. Lorena wird darüber informiert, dass sich die „Stress-Gedanken“ bereits derart lange manifestiert haben, dass eine längere Phase bewussten Einübens der konstruktiveren Sichtweisen benötigt wird, um die automatisierten Denkmuster zu durchbrechen.

In den folgenden Sitzungen werden auch die weiteren „Stress-Gedanken“ einer sorgfältigen Prüfung unterzogen. Mit der Zeit entwickelt die junge Frau sogar Freude daran, sich mit ihren Sichtweisen auseinanderzusetzen und dadurch aktiv einen Einfluss auf ihre Gefühle nehmen zu können. Am Ende der kognitiven Umstrukturierung haben wir das folgende Schema erarbeitet:

Zur Unterstützung des Lernprozesses werden die neuen, hilfreichen Gedanken in den Sitzungen auf farbige Kärtchen geschrieben. Lorena erhält den Auftrag, sich zwischen den Sitzungen mit diesen zu beschäftigen, indem sie diese immer wieder liest, darüber nachdenkt oder zur Hand nimmt, wenn sie von ihren Sorgen übermannt wird. Im Verlauf der Sitzungen wird mit Lorena zudem ein „gedankliches Stopp!“ erarbeitet. Lorena empfindet es als hilfreich, bewusst aus dem „Gedankenkarussell“ voller Sorgen auszusteigen, indem sie sich vor ihrem inneren Auge ein Stopp-Schild vorstellt, ihre Kärtchen mit den hilfreichen Gedanken zur Hand nimmt und sich damit aktiv mit ihren Ängsten auseinandersetzt anstatt sich passiv von diesen übermannen zu lassen.

Probe des „Ernstfalls“

Die folgende Sitzung hat es „in sich“. Wie bereits in der Problemanalyse diskutiert, kann Lorena ihre Ängste nur dann reduzieren, wenn sie sich diesen stellt. Im Anschluss an die gedankliche Vorbereitung auf den Vortrag wird daher nun „der Ernstfall“ eingeübt. Zu Beginn wird das Vorgehen der Exposition mit Lorena besprochen: Die Klientin soll jeweils einen kleinen Ausschnitt des Vortrags zur Verteidigung ihrer Master-Arbeit abhalten und anschließend auf einer Grafik eintragen, wie intensiv sie ihre Angst auf einer Skala von eins bis zehn erlebt hat.

Es ist hilfreich, bei der Vorbereitung der Exposition auf einige wichtige Punkte zu achten:

  1. Die Sitzung wird am Ende des Arbeitstages anberaumt. Somit haben wir als Lerncoach genügend Zeit, mit der Klientin solange zu üben, bis diese einen deutlichen Abfall der Angst erlebt und mit einem Erfolgserlebnis nach Hause gehen kann.
  2. Gemeinsam mit der Klientin wird noch einmal das Prinzip der Habituation erörtert. Der Lerncoach achtet darauf, dass Lorena genau versteht, warum die Konfrontation sinnvoll ist und ermutigt sie, sich ihren Ängsten zu stellen.
  3. Lorena wird darauf vorbereitet, dass die Angst auftreten wird. Der Lerncoach ermutigt Lorena, diese zuzulassen.
  4. Der Lerncoach teilt der Klientin mit, dass die Konfrontation ausschließlich zur Reduktion der Angst durchgeführt wird. Es soll in diesem Schritt (noch) nicht darum gehen, einen „perfekten“ Vortrag zu halten oder die Vortragskompetenzen zu schulen, sondern den Umgang mit der Angst zu trainieren. Der Lerncoach versichert zudem, dass in diesem Durchgang keine Verbesserungsvorschläge angebracht werden. Hinweis: In einem Zustand hoher Erregung ist die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses eingeschränkt. Wir raten unseren Lerncoaches daher, erst an den Vortragskompetenzen zu arbeiten, wenn die Angst des Klienten im Zuge der Exposition deutlich nachgelassen hat.

Nach neun Übungs-Durchgängen, bei denen Lorena immer wieder denselben Teil ihres Vortrags abhielt, ist ein erster Gewöhnungseffekt eingetreten. Lorena schätzt ihr Angstniveau mittlerweile auf drei von zehn Angstpunkten. Sie fühlt sich erschöpft, ausgelaugt, aber auch „ein bisschen stolz“. Ich bin ebenfalls stolz auf meine Klientin, die sich ihrer Angst mit Mut und Tapferkeit gestellt hat.

Hinweis: Ein Beispiel für eine Exposition bei Vortragsängsten -in diesem Fall mit Kindern- finden Sie in folgendem Video.

Die folgenden beiden Sitzungen werden für das weitere Training genutzt. Nun werden Schritt für Schritt die folgenden Vortragskompetenzen erarbeitet:

  • Ich stehe gerade, straffe die Schultern und stelle mir vor, ich wäre wie ein Baum fest mit dem Boden verwurzelt.
  • Ich wähle einen knackigen Einstieg, der mir liegt.
  • Ich weise das Publikum darauf hin, dass ich Fragen zum Vortrag gerne am Ende beantworte, damit mich niemand unterbricht.
  • Ich arbeite mit Stichwortkärtchen, nicht mit einem ausformulierten Manuskript, und übe das freie, mündliche Vortragen.
  • Ich spreche langsam und deutlich.
  • Wenn ich den Faden verliere, nehme ich mir kurz Zeit und schaue auf meinen Kärtchen nach.
  • Ich schaue das Publikum an, sobald ich mich dazu in der Lage fühle (ich darf den Zuhörern auch auf die Stirn, nicht in die Augen, schauen.)

Hinweis: Achten Sie darauf, dass pro Übungsdurchgang lediglich zu einem Punkt konstruktive Kritik angebracht wird und dass Sie die Fortschritte der Klientin ausreichend hervorheben. Darüber hinaus empfiehlt es sich, Verbesserungsvorschläge der Schwierigkeit nach anzuordnen. So werden Tipps, die sich schnell umsetzen lassen, mit Lorena zu Beginn geübt, während schwierigere Veränderungen (z.B. Blick in die Augen der Zuhörer/innen) erst angesprochen werden, wenn die Klientin an Sicherheit gewonnen hat. Lorena erklärt sich dazu bereit, dass in diesem Zuge auch das Videofeedback eingesetzt wird. So kann die Klientin überprüfen, wie sie beim Vortrag von außen wirkt und auch für sich selbst Verbesserungsvorschläge ableiten.

Weiterbildung in Lerncoaching: Modul "Lerncoaching mit Jugendlichen und Erwachsenen"

Möchten Sie wissen, wie Sie Jugendliche und Erwachsene bei Lernschwierigkeiten, Prüfungsängsten und Aufschiebproblemen kompetent beraten können? 

Im Modul lernen Sie, wie Sie zu Jugendlichen eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen, Klient/innen für das Lerncoaching motivieren und gemeinsam mit ihnen Ziele für das Coaching erarbeiten. Zudem lernen Sie wissenschaftlich überprüfte Methoden kennen, die es Jugendlichen und Erwachsenen erlauben, effektiver zu lernen, Leistungsängste abzubauen und das Lernen oder schriftliche Arbeiten anzupacken anstatt aufzuschieben. 

Einen Überblick über die gesamte Weiterbildung zum Lerncoach finden Sie hier

Akademie für Lerncoaching
Albulastrasse 57
8048 Zürich